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2.3 Tiefe und seichte Orthografien

Unter tiefen und seichten (flachen, phonetischen) Orthografien versteht man den Grad, in dem eine geschriebene Sprache von der einfachen Eins-zu-eins-Buchstaben-Phonem- Korrespondenz abweicht.

Die orthografische Tiefe einer alphabetischen Orthografie bezeichnet den Grad, in dem Verschriftlichung und Aussprache voneinander abweichen.

Wie schwierig sich das Lesen in einer Fremdsprache für Lernende darstellt, hängt stark davon ab, wie einfach es ist, die Aussprache eines Wortes aufgrund seiner Schreibweise vorherzusagen. Flache Orthografien sind aufgrund des geschriebenen Wortes leicht und tiefe Orthografien sind aufgrund ihrer Schreibweise schwer auszusprechen.

(Lenhard & Lenhard, 2018)

Reflexion 7

Überlegen Sie, ob es sich bei Ihrer Muttersprache bzw. anderen vertrauten Sprachen um eine seichte oder tiefe Orthografie handelt. Bei einer seichten Orthografie kann man ein Wort unter Beachtung weniger Ausspracheregeln korrekt lesen. Wie sieht es mit den Herkunftssprachen der Schüler*innen in Ihren Klassen aus? Haben Sie dazu Informationen, um welche Art der Orthografie es sich handelt? Notieren Sie Ihre Überlegungen.

Richtige Antworten

In flachen Orthografien ist die Rechtschreib-Laut-Entsprechung direkt: Aus den Ausspracheregeln kann man das Wort richtig aussprechen. Mit anderen Worten, flache (transparente) Orthografien, auch phonemische Orthografien genannt, haben eine Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen ihren Graphemen und Phonemen, und die Schreibweise der Wörter ist sehr konsistent.

Im Gegensatz dazu ist in tiefen (undurchsichtigen) Orthografien die Beziehung weniger direkt und der/die Leser*in muss die willkürliche oder ungewöhnliche Aussprache unregelmäßiger Wörter lernen. Mit anderen Worten, tiefe Orthografien sind Schriftsysteme, die keine Eins-zu-Eins-Entsprechung zwischen Lauten (Phonemen) und den sie repräsentierenden Buchstaben aufweisen. Gute Beispiele dafür sind Englisch und Französisch. (Romonath, 2006)

Die folgende Übersicht zeigt eine Zuordnung einiger häufiger Sprachen innerhalb des oben besprochenen Paradigmas.

Seichte Orthografien Tiefe Orthografien
Spanisch Englisch
Finnisch Französisch
Türkisch Ungarisch
Italienisch Arabisch
Serbisch/Kroatisch/Bosnisch

Tabelle 2: Beispiele für tiefe und seichte Orthografien

Aufgabe 12

Lesen Sie den folgenden Infotext zu modernen Fremdsprachen aus der Broschüre des Deutschen Bundesverbandes Legasthenie, der die Thematik vertiefen soll und unterstreichen Sie die wichtigsten Schlagwörter.

Sie finden darin eine kompakte Zusammenfassung von Informationen über verschiedene seichte und tiefe Orthografien.

Richtige Antworten

Moderne Fremdsprachen unterscheiden sich in ihrem Schwierigkeitsgrad durch die Einordnung der Beziehung zwischen Laut-Schriftsystem. Sprachen, wie Spanisch oder Italienisch, weisen sehr regelhafte Verbindungen zwischen Sprachlauten (Phonemen) und ihren orthographischen Entsprechungen, den Graphemen, auf. Sie gelten als lautgetreue Sprachen. Lautgetreu bedeutet, dass die Aussprache und Schreibweise weitgehend übereinstimmen. Dies kann für Personen mit Lese-Rechtschreibstörung eine große Hilfe beim Erwerb der Fremdsprache sein. Das Erlesen und die Schreibung von Wörtern gelingen daher besser als bei Sprachen, wie Englisch und Französisch, die eine weniger transparente Beziehung zwischen Aussprache und Schreibweise aufweisen.

Beispiele aus der englischen Sprache können diesen Sachverhalt verdeutlichen. Durch die Vielfalt der englischen Phoneme und deren orthographische Umsetzung entstehen komplexe Beziehungen zwischen Aussprache und Schreibweise von Wörtern, die nur schwer zu durchdringen sind. Insbesondere die vielen silent letters, d. h. die nicht gesprochenen Buchstaben, verkomplizieren die Aneignung der englischen Schriftsprache. Es gibt viele Wörter mit der gleichen Aussprache, aber verschiedenen Schreibweisen.

(Deutscher Bundesverband Legasthenie Fremdsprachenlernen, 2023)

Bei tiefen Orthografien ist nicht immer klar, wie eine Buchstabenkombination zu lesen ist (z. B. Englisch how vs. know). Das /ow/ wird ganz verschieden ausgesprochen. Ebenso ist nicht eindeutig festgelegt, wie derselbe gesprochene Laut zu schreiben ist. Das folgende Beispiel soll dies demonstrieren.

Es geht bei dem folgenden Beispiel um das lang gesprochene /i/ in der englischen Sprache, das ganz verschiedene Schreibvarianten aufweist.

[e] fever
[ea] tea
[ee] sweet
[ei] ceiling
[ie] piece

Solche komplizierten Beziehungen zwischen Laut- und Schriftsprache, wie wir sie in der englischen Sprache finden, bedeuten eine Herausforderung für die Lernbereitschaft von Kindern und Jugendlichen mit Lese-Rechtschreibstörung, wie auch ein erhöhtes Risiko für ein Scheitern im Fremdsprachenunterricht. (Deutscher Bundesverband Legasthenie Fremdsprachenlernen, 2023)

Es stellt sich nun die Frage, wie das Deutsche in dieses Paradigma einzuordnen ist.

Das Deutsche wird eher den seichten Orthografien zugerechnet. Es lohnt sich aber, das Sprachsystem des Deutschen genauer zu betrachten und zwischen Lesen und Schreiben zu differenzieren (siehe Kapitel 2.3.1).

Asymmetrie im deutschen Sprachsystem

Die Unterscheidung in seichte und tiefe Orthografien ist natürlich in gewisser Weise auch graduell zu sehen bzw. es muss zwischen Lesen und Schreiben unterschieden werden.

Zwischen Lesen und Schreiben besteht im Deutschen ein asymmetrisches Verhältnis.

Das Lesen gelingt für Kinder ohne Lesestörung relativ leicht, der Schreiberwerb dauert länger als der Leseerwerb.

Bei seichten Orthografien funktioniert das System in Lese- und Schreibrichtung symmetrisch. Beim Lesen ist klar, wie jeder Laut auszusprechen ist, beim Schreiben ist jedem Laut relativ eindeutig ein Buchstabe zugeordnet.

Auch wenn das Deutsche in der Fachliteratur häufig eher zu den seichten Orthografien gezählt wird, sollte man es auch unter dem Aspekt der Asymmetrie betrachten. Beim Lesen ist die Laut-Buchstabenbeziehung meist eindeutig, beim Schreiben aber häufig nicht. So stellt es meistens kein Problem dar, die Wörter „Maschine” und „Biene” zu lesen, die unterschiedliche Verschriftlichung des lang gesprochenen /i/ erzeugt aber häufig Fehler.

In der Abbildung 9 finden Sie eine Darstellung, die nochmals das Prinzip der seichten und tiefen Orthografie veranschaulicht, sowie zur Asymmetrie, wie sie in der deutschen Sprache anzutreffen ist. Dargestellt ist das oben angesprochene Beispiel mit dem lang gesprochenen /i/. In Wörtern wie lieben, ihn, ziehen oder Maschine wird derselbe Laut ganz unterschiedlich geschrieben. Es handelt sich um eine homophone Beziehung (gleiche Aussprache

bei verschiedener Schreibweise).

© Abbildung 9: Im oberen Teil werden die Laut-Buchstabenbeziehungen für seichte und tiefe Orthografie dargestellt. Der untere Teil zeigt das asymmetrische Verhältnis im Deutschen anhand eines Beispiels. Der lang gesprochene /i/-Laut kann als "ieh", "ih", "ieh" oder "i" geschrieben werden (Reinhard Kargl, Legasthenie Mythos und Realität, 2018).
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2.2. Wissenschaftlicher Hintergrund

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